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Türkische Einwanderung: Angekommen in der Realität, lange nicht am Ziel

Unter den Tonnen Papier, die Staaten über die Jahre mit Vereinbarungen füllen, gibt es ein Abkommen vom 31. Oktober 1961, das von so durchschlagender Wirkung war, dass es zwei Länder und das Leben von Millionen Menschen bis heute radikal verändert hat. Die Heinrich-Böll-Stiftung widmete deshalb dem 50. Jahrestag des Anwerbeabkommens zwischen Deutschland und der Türkei die Tagung Vom Gastarbeiterland zum Einwanderungsland, die am 27. Oktober 2011 die Schicksale und Biografien türkischer Gastarbeiterfamilien ins Zentrum stellte. Der diskursive Scheinwerfer sollte weniger auf Versäumnisse, sondern auf Erfolgswege und ihre Bedingungen gerichtet werden, aber auch auf die Zukunftsfrage: Welche Lehren muss Deutschland aus seiner Einwanderungsgeschichte ziehen, um den Kampf um den Zusammenhalt in der Gesellschaft zu gewinnen?

Eine positive Bewertung von 50 Jahren türkischer Einwanderung gab Ralf Fücks, Vorstand der Heinrich-Böll-Stiftung, gleich zum Tagungsauftakt: „Im Großen und Ganzen kann man sagen, dass die Immigranten wie die bundesdeutsche Gesellschaft die Einwanderung besser bewältigt haben als man befürchten musste. Denn die Voraussetzungen waren nicht gut.“ Weder die Gastarbeiter noch Deutschland seien vorbereitet gewesen auf die durch das Anwerbeabkommen ausgelöste „mittlere Völkerwanderung“ – heute leben rund 2,5 Millionen türkeistämmige Menschen in Deutschland, mittlerweile in der vierten Generation, so Fücks. „Unter dem Strich eine Erfolgsgeschichte“, resümierte er, trotz aller Probleme und Abgrenzung, trotz aller Alarmrufe über „Parallelgesellschaften“. Viele hätten die Chancen am Schopfe gepackt, etliche es gar zu Prominenz und Reichtum gebracht, Fücks nannte stellvertretend Mesut Özil, Cem Özdemir, Vural Öger, Feridun Zaimoglu sowie die Regisseure Shermin Langhoff und Fatih Akin. Doch die andere Seite dieser Medaille sei, dass für die Mehrheit der Migranten der Traum vom sozialen Aufstieg unerfüllt geblieben sei. Angesichts der Entwicklung, dass ein Drittel türkischstämmiger Jugendlicher ohne qualifizierte Ausbildung und damit chancenlos auf dem Arbeitsmarkt sei, laste eine „schwere Hypothek für die Zukunft“ auf dem Land.

Nicht jedem Anfang wohnt ein Zauber inne

„Ich hatte vom Paradiesland Deutschland gehört“, begann Kazim Erdogan im anschließenden Zeitzeugengespräch „Gekommen und Geblieben“ seine Geschichte zu erzählen. Der Einwanderer der ersten Generation kam mit 21 Jahren nach Berlin um zu studieren, in der Türkei hätten die Eltern sein Studium nicht finanzieren können, erklärte er und dass er danach schnell zurückkehren wollte. Er blieb wie Millionen andere auch. Inzwischen hat der Psychologe beim Psychosozialen Dienst des Bezirksamts Neukölln so viele Integrationsinitiativen und Vereine gegründet, darunter 2007 die erste Selbsthilfegruppe türkischer Väter, und Preise für seine gesellschaftlichen Leistungen bekommen, dass sie bei der Vorstellung des 58-Jährigen nicht alle aufgezählt werden können. Er verkörpert eine der vielen Erfolgsgeschichten, aber eben auch die Bitterkeit darüber, in dieser Gesellschaft als Zugewanderter nur schwer seinen Platz zu finden, sich vielleicht nie angekommen und gleichberechtigt fühlen zu können. Bei seiner Ankunft in Deutschland, seien seine Eindrücke von den Deutschen „Offenheit, Toleranz und Anerkennung“ gewesen, erinnerte sich der zierliche Kasim Erdogan. Heute erlebe er einen Rückschritt: „Integration ist für mich zu einem Schimpfwort geworden.“ Als er vor 38 Jahren in München ankam, stand er vor einer anderen Hürde, er konnte das Lösen einer Fahrkarte allein nicht bewältigen: „Ich war hilflos wie ein Kind ohne Deutschkenntnisse.“ Erst die Suche nach einem "schnauzbärtigen Mann“, der für ihn übersetzte, erlöste ihn aus seinem Dilemma: „Ohne Sprachkenntnisse bist du hier verloren“, das habe er als erstes gelernt.

Eine helfende Hand verändert viel

Eine Erfahrung, die alle teilten, die sich zu Wort meldeten. „Ich war wie taubstumm“, beschrieb Ismail Mutlu aus Geislingen mit schwäbischem Akzent seine ersten Jahre in Deutschland. Als Sechstklässler wurde er 1980 vom Vater nachgeholt. Rätselhafterweise war er in der Schule ohne Deutschkenntnisse versetzt worden, bekam aber keinen Abschluss, landete bei einer türkischen Clique und machte dumme Dinge, wie er es nannte. Jahre später schleppte ihn ein Akademiker immer wieder mit zu Amnesty-Treffen, er verstand zwar immer noch nichts, aber diesmal hatte ihm jemand die Hand gereicht: „Ich hab mir viel Mühe gegeben, die Sprache gelernt, sogar eine Ausbildung machen können. Nach einigen Monaten bin ich in die Gesellschaft reingekommen“. Inzwischen amtiert Mutlu als Stadtrat für die Grünen in Geislingen. Noch eine Erfolgsgeschichte. „Ich fühle mich wohl und wo man sich wohl fühlt ist Heimat“, bekundete er zufrieden und mahnte zugleich: „Integration ist keine Einbahnstraße, mich hat dieser Akademiker reingeholt in die Gesellschaft.“ Bis heute keine Selbstverständlichkeit: „Ich erlebe leider in Geislingen, dass die meisten aus der Türkei sich in türkischen Vereinen isolieren.“

Typisch Deutsch e.V.

Die Filmemacherin und Schauspielerin Sema Poyraz hatte auch Glück, fand eine helfende Hand als sie „vor 50 Jahren und vier Monaten“ von ihrem Vater nach Deutschland geholt wurde, erzählte sie. Mit einem kleinen Langenscheid-Lexikon brachte die Elfjährige sich Deutsch bei, fand bald eine deutsche Freundin, die sich schwer dafür einsetzte, dass sie mit ihr auf das Gymnasium kam: „So konnte ich das Abitur machen“. Dann kam die Filmakademie. Sie wurde Schauspielerin. „Ich bin jetzt 50 Jahr hier und werde immer türkischer“, erklärte die Frau mit dem Pagenkopf aufgebracht. „Egal wie gut ich deutsch spreche, ich werde immer als Ausländerin angesehen“, ihre Enttäuschung war unüberhörbar. Sie kämpfe, kritisierte sie, mehr denn je gegen Klischees, gegen Fernsehredaktionen, die sie nur in Rollen als kopftuchtragende Mutter oder Großmutter einsetzten, nie als Ärztin, Lehrerin oder Richterin.

Der 29-Jähriger Diplom-Wirtschaftsingenieur Abdullah Ince, stimmte den Vorrednern zu: “Die Debatte über die Türken, über Ausländer, hat Rückschritte gemacht.“ Er sei in Hessen geboren: „Aber ich wurde immer als etwas Anderes angesehen. Wir waren seelisch verkrüppelt im Umgang mit anderen.“ Es hätte nur die Wahl gegeben, sich selbst aufzugeben oder zu rebellieren. Er wählte den zweiten Weg, gründete im vergangenen Jahr den Verein „Typisch Deutsch e.V“, um mit anderen zusammen eine Lösung aus dem Dilemma zu finden: „Wir sind Teil dieses Landes, sprechen gut Deutsch, wir sind eine bunte Gemeinschaft und müssen Gemeinsamkeiten finden und nach diesen leben.“

Integration im Rückwärtsgang?

Ist die Integrationsdebatte nicht nur festgefahren, sondern macht gar einen Rückschritt? Diese Frage griff Fücks in der von ihm moderierten Diskussion „Zwischen Partizipation und Segregation. Der mühsame Weg zu sozialer und politischer Teilhabe“ auf. Die SPD-Politikerin Lale Akgün teilte die zuvor mehrfach geäußerte Einschätzung nicht: „Ich denke nicht, dass wir einen Rollback erleben, es ist nicht schlechter geworden. Wir streben mit Sieben-Meilen-Stiefeln auf Normalität zu. Insgesamt sind die 50 Jahre eine Erfolgsgeschichte“. Allerdings schränkte die in Istanbul geborene 59-Jährige Politikerin aus NRW, die von 2002 bis 2009 Abgeordnete des Deutschen Bundestags war, auch ein: „Persönlich stand mein Leben immer im Spannungsfeld zwischen dazugehören und draußen sein. Ich werde nach 50 Jahren in Deutschland immer noch gefragt, wie es mir hier gefällt. Permanent muss man sich erklären, das ist anstrengend.“

Kenan Kolat, Bundesvorsitzender der Türkischen Gemeinde Deutschland, erlebte auch einen Rückschritt: „Ich werde immer mehr nur auf meine Herkunft reduziert. Ich bin auch türkischer geworden in Deutschland.“ Kolat, der sein Diplom für Schiffstechnik in Berlin machte, sagte, er versuche mit Witz zu parieren, wenn er nach Jahrzehnten noch gelobt werde, dass er gut deutsch spreche. Und zeigte ein Anwendungsbeispiel der Abwehrwaffe Humor: Seit dem Buch von Sarrazin seien doch mehr Staatssekretäre und Minister türkischer Herkunft eingestellt worden als jemals zuvor. „Vielleicht, wenn er noch ein Buch schreibt, werden es noch mehr?“ Insgesamt beurteilte Kolat den Integrationsdiskurs aber doch positiv: „Wir sind vorangekommen. Die politische Partizipation ist doch gelungen, wenn immer mehr Migranten in die Politik gehen und sich auf allen Feldern engagieren.“

Cem Özdemir, als Bundesvorsitzender von Bündnis 90/Die Grünen eines der prominentesten Beispiele für die Politikkarriere eines Gastarbeiterkinds, stellte sich den Teilnehmern als „Kind des Anwerbeabkommens“ vor. Seine Eltern, beides Gastarbeiter aus der Türkei, waren sich im Schwarzwald begegnet, wo Özdemir geboren wurde und aufwuchs. Einer der Teilnehmer machte Özdemir unter Gejohle im Saal gleich zu einem „deutschen Obama“ und brachte ihn damit sichtlich in Verlegenheit. Die mehrfach geäußerte Erfahrung vieler Teilnehmer, in Deutschland „immer türkischer zu werden“, interpretierte Özdemir als Reaktion auf die Enttäuschung, nicht als gleichwertig gesehen zu werden, besonders bei denjenigen, die einen akademischen Hintergrund hätten und viel für die Gesellschaft leisten würden. Er würdigte die „Pionierleistung“ der ersten Gastarbeiter-Generation und sprach ihnen offiziell Dank dafür aus. Nach 50 Jahren Einwanderung erwarte man von der politischen Führung in diesem Land allerdings auch mal eine Grundsatzrede, die um diese Menschen werbe, forderte er: „Es geht schon lange nicht mehr um das ob, sondern um das wie des Zusammenlebens.“

Abschied von der homogenen Gesellschaft

Moderator Fücks bat die Staatsministerin für Migration und Integration, Maria Böhmer, als Vertreterin der Bundesregierung doch einmal amtlich zu definieren, was denn Integration bedeute. Die CDU-Politikerin blieb eine konkrete Antwort schuldig, räumte dafür indirekt Versäumnisse der Politik ein, „die Politik hat eine Menge dazugelernt“, gab dann schließlich gegen Ende der Podiumsdiskussion in einem Nebensatz noch eine überraschend griffige Definition von Integration: „Wir sind uns einig, dass gesellschaftlicher Zusammenhalt, gleichberechtigte Teilhabe für alle, die hier leben – und das heißt Integration – nur in einem breiten gesellschaftlichen Konsens gelöst werden kann.“

Lale Akgün plädierte dafür, Abschied zu nehmen von der homogenen Gesellschaft, die es so nie wieder geben werde: „Wir leben in einer heterogenen Gesellschaft. Es gilt zu schauen, was hält diese zusammen?“ Dazu gehöre, Sorge dafür zu tragen, dass die Gesellschaft dabei nicht zerfasere.“ Als Fücks die Initiativen „Typisch Deutsch e.V.“ und „DeutschPlus“ als Befreiungsschlag der jungen Generation lobte, die von sich aus selbstbewusst reklamiere “ich bin deutsch. Punkt“, widersprach Kenan Kolat energisch: „Ich bin Deutsch-Türke. Punkt.“ Er erklärte: „Wir haben hybride Identitäten, jeder muss sich selbst definieren dürfen.“ Özdemir versuchte es mit einer paradoxen Intervention, wie er es nannte: „Die Frage ‚was ist deutsch‘ ist doch typisch deutsch.“

Türkischer Halbmond im deutschen Pass

Das beste Bild überhaupt für die hybriden Identitäten, die sich als roter Faden durch alle Gespräche zogen, fand an diesem Tag – wie sollte es auch anders sein – ein Filmemacher. Sinan Akkus, der seit seinem dritten Lebensjahr in Deutschland lebt und durch seinen ersten Spielfilm „Evet – Ich will“ bekannt wurde, projizierte im Panel „50 Jahre Migrationsgeschichte: Teilhabe und Erfolgswege“ ein Foto seines deutschen Personalausweises an die Wand. Das Lachen im Saal war laut und herzlich: Er trug auf dem Ausweisfoto ein knallrotes Hemd, auf dessen linkem Kragen ein weißer türkischer Halbmond mit Stern prangte, direkt neben der Zeile: Staatsangehörigkeit deutsch. Er erklärte: „Man ist beides, deutsch und türkisch“. Dann ließ der 41-Jährige noch ein Bild seiner kleinen Tochter folgen, diese hatte ein kleines schwarz-rot-goldenes Pflaster auf der Nase mit der Aufschrift „Made in Germany“.

Nihat Sorgec, Geschäftsführer vom BildungsWerk Kreuzberg, beschrieb seine Identitätskarriere so: Vom Gastarbeiterkind zum Türken in Deutschland, dann zum türkischstämmigen Deutschen und schließlich zum Berliner. „Berlin ist mein Heimatort, der mir wahnsinnige Chancen gegeben hat.“ Auch Osman Isfen, Juniorprofessor für Strafrecht in Bochum, der nach der Grundschule von seinem ausgewanderten Eltern nachgeholt wurde, findet seine Identität im Lokalpatriotismus: „Für mich heißt es nicht Deutschland oder Türkei, sondern Bochum als auch Istanbul.“ Er lehre gern in beiden Städten, die Wege seien heute kurz, drei Flugstunden, seine Eltern mussten früher 55 Stunden mit dem Zug fahren.

Alte und neue Barrieren

Die Frage nach den Hürden, die sie überwinden mussten, um in Deutschland Erfolg haben zu können, beantworteten die Podiumsgäste individuell: Sorgec nannte das immer vorhandene Gefühl „ein Fremdkörper in diesem Land zu sein, nicht dazuzugehören.“ Auch wenn es nicht explizit gesagt worden sei, gespürt habe er es immer. Sinan Akkus bekannte dagegen: „Ich fühlte mich von Anfang an immer gut integriert“, nur habe er es als Nachteil empfunden, dass seine Eltern kein Deutsch sprachen, nie zu Elternabenden gingen, ihm bei Vielem nicht helfen konnten. Heute gebe es neue Barrieren, beruflich müsse er wie Poyraz gegen Vorurteile ankämpfen, das merke er, wenn etwa Rollen für Türken in den Drehbüchern vorkämen.

Juniorprofessor Isfen zeigte sich sehr zufrieden, er sei in der Gesellschaft angekommen, habe er keine beruflichen Nachteile wegen seiner Herkunft bemerkt, wolle allerdings nicht als „türkischer Professor“ bezeichnet werden. Mit seiner These, „wenn man Erfolg hat, wirft einem keiner die türkische Identität vor“, erntete er vehementen Widerspruch im Saal.

Tschüss Deutschland - Merhaba Türkiye!

Nicht alle Gastarbeiter oder ihre hier aufgewachsene Kinder sind geblieben und träumten nur von der Rückkehr, allein 2009 verließen 40.000 gut ausgebildete Immigranten Deutschland in Richtung Türkei. Ihnen widmete sich das Gespräch „Weggegangen: Tschüss Deutschland – Merhaba Türkiye“. Das Motiv, in die Türkei zu gehen, war für die beiden Teilnehmerinnen Alev Karatas und Professor Zehra Gülmüs dasselbe wie für die Gastarbeiter, die vor 50 Jahren dem Anwerbeabkommen folgten: Die Arbeitsmarktsituation. Nur diesmal bot die Türkei die besseren Chancen. Ihre Kompetenzen als Germanistikprofessorin würden in der Türkei mehr geschätzt, in Deutschland hätte sie an der Uni nicht so schnell Karriere gemacht, erklärte Gülmüs, Tochter der ersten Gastarbeitergeneration: „Ich bin jetzt seit zehn Jahren dort und glücklich.“

Alev Karatas pendelte schon immer zwischen den Kulturen, beschrieb sich als „Kofferkind“: Sie wurde 1969 in Bruchsal geboren, mit 7 kam sie nach Istanbul, lebte bei ihrer Tante, kehrte 1981 nach Deutschland zurück, wo sie studierte. 2003 zog sie nach Istanbul, wo sie bis heute arbeitet: „Der Grund war auch der Arbeitsmarkt, in Berlin sah es für mich schlecht aus.“ Ihre Erfahrung: „nach anfänglichen Schwierigkeiten ist auch eine unglaubliche Last von meinen Schultern gefallen, weil ich nicht mehr gefragt werde, woher ich komme“. Aber sie warnt auch: „Nicht alle werden in der Türkei mit offenen Armen empfangen.“ Für beide war der Weg in die Türkei keine endgültige Entscheidung, betonten sie unisono, die Möglichkeit dank deutscher Staatsbürgerschaft zurückkehren zu können, bedeute eine wichtige Sicherheit.

Die ewig deutsche Angst vor dem Fremden

Wie eklatant die deutsche Integrationsdebatte und die Fakten auseinanderklaffen, demonstrierte Naika Foroutan, die an der Humboldt Universität zu Berlin forscht und lehrt, mit ihrem Vortrag. Und gab damit ihre Antwort auf die zuvor aufgeworfene Frage nach einem Rückschritt im Diskurs. Von den 82 Millionen Einwohnern Deutschlands haben 16 Millionen im Jahr 2011 Migrationshintergrund, davon 10 Millionen die deutsche Staatsbürgerschaft. Es leben nur 6 Millionen Menschen ohne deutschen Pass hier. „Doch der Diskurs suggeriert Angst vor Überfremdung, vor Islamisierung“, wie sie mit gleich mehreren Umfrageergebnissen belegte. Nur fünf Prozent aller Menschen mit Migrationshintergrund lebten in den neuen Bundesländern, aber dort seien die Ressentiments am größten.

Am Beispiel von Frankfurt am Main demonstrierte sie, wie stark die Debatte im Widerspruch zur Realität steht. Dort sei mit 67,5 % der Anteil von Kindern unter sechs Jahren mit Migrationshintergrund am höchsten, gefolgt von Augsburg und anderen Städten, die nicht wegen Problemen mit Migranten in den Medien auftauchten. Anders als Berlin und Hamburg, die wegen des geringen Anteils nicht in ihrer Statistik zu finden waren, aber „in der gefühlten Wahrnehmung“ die öffentliche Debatte dominierten: „Migration wird mit Städten assoziiert, wo es dysfunktionale Probleme gibt“, schlussfolgerte sie. Die Einstellung, dass Pluralität auf Kosten der Überfremdung gehen, überwiege in Deutschland, verglichen mit Frankreich, Dänemark oder den Niederlanden, das zeigte sie anhand Umfragen der Uni Münster zu religiöser Vielfalt. „Alle Studien zu Migration ändern nichts an unserer Wahrnehmung“, so ihr Fazit.

Die schwierige Suche nach dem Wir-Gefühl

Dem Phänomen von Wahrnehmung, Selbst- und Fremdbestimmung sowie Identitätsbildung spürte gewohnt provokativ der Rechtsanwalt und Journalist Michel Friedman als Moderator der letzten Diskussionsrunde „Wie sichern wir den sozialen und politischen Zusammenhalt?“ nach. Hinter der Bekenntnisfrage: „Woher kommst Du?“, stecke oft eine Loyalitätsabfrage, so Friedman, aber warum würde die andere Seite darauf eingehen? Die Antwort des Rechtsanwalts und Bundestagsabgeordneten von Bündnis 90/Die Grünen, Memet Kilic, illustrierte wie komplex der Identitätsprozess abläuft: „Zum Glück passiert es mir nicht, dass ich oft gefragt werde, aber ich spüre den inneren Druck, das zu zeigen.“ Seine Wiener Kollegin Alev Korun, Grünen-Abgeordnete im Nationalrat bestätigte: „Teilweise gibt es eine Selbstethnisierung. Der Druck der Mehrheitsgesellschaft ist nicht zu übersehen.“ Sie werde im Nationalrat öfter wegen ihrer türkischen Wurzeln mit Erdogans Politik konfrontiert. „Der aktuelle Diskurs geht stark in Richtung Identität und Loyalität, dem könnten sich Einwanderer nur schwer entziehen“, erläuterte Foroutan.

„Wie erreicht man in einer heterogenen Gesellschaft eine Identität dieser Vielfalt?“, stellte Friedmann die zentrale Gesellschaftsfrage. Dies sei mit die wichtigste Herausforderung für die Zukunft des Landes, darin waren sich alle auf dem Podium einig. Foroutan kappte dabei eine gängige Illusion: „Wir können die Differenz nicht auflösen“, zeigte sich dennoch zuversichtlich: „In Teilen gelingt es uns bereits ein Wir-Gefühl abzurufen, etwa bei der WM oder aktuell bei der Frage nach Europa. Wir stehen am Anfang, wie die Amerikaner für uns ein Selbstverständnis als Einwanderungsland zu entwickeln.“ Kilic setzte auf klassische Zivilisationstugenden: „Wir brauchen Empathie und gegenseitiges Verstehen. Solange wir kein Wir-Gefühl entwickeln, kommen wir als Gesellschaft nicht voran“. Er schlug als Grundlage, wie mehrfach zuvor, das Grundgesetz vor, das er als sein Identifikationsmedium gewählt habe. Friedman zeigte sich am Ende der Tagung trotz aller noch ungelösten Herausforderungen ebenfalls optimistisch: „Ich glaube, vieles ist schon weiter, als uns bewusst ist.“ 


Corina Weber (M.A.) lebt und arbeitet als freie Journalistin in Berlin. Sie ist Absolventin der Deutschen Journalistenschule München.

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